Osternachtsingen ist Immaterielles Kulturerbe

Heidi Christ und Birgit Speckle

Vorbemerkung

Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich seit 2013 beim UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes. Auf der Homepage wird die Initiative begründet als „Wertschätzung und Anerkennung überlieferten Wissens und Könnens. Ziel ist, die Vielfalt des lebendigen Kulturerbes in Deutschland und weltweit zu erhalten, zu pflegen und zu fördern.“ Aktuell sind auf der Liste der Einträge für die Bundesrepublik Deutschland 125  Positionen verzeichnet, das Bayerische Landesverzeichnis umfasst 44 Formate: Von den Agnes-Bernauer-Festspielen Straubing über die Fränkischen Passionsspiele Sömmersdorf bis zum Zwiefachen. Kulturformen, die sich in den Verzeichnissen des immateriellen Kulturerbes wiederfinden, ist – kurz gesagt – eine lokal, regional und überregional höhere Popularität gewiss. Damit stehen die Chancen gut für den Erhalt dieser Ausdrucksformen, die tradierte Kontinuität und kollektive Identität und Kreativität ausdrücken.

Das gilt auch für das Osternachsingen im rund 1.500 Einwohner umfassenden Ort Laudenbach im unterfränkischen Landkreis Miltenberg. Dieser Brauch wurde 2020 in das Bayerische Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Die Initiative dazu ging vom Heimat- und Geschichtsverein Laudenbach (HGV) unter seinem Vorsitzenden Horst Eilbacher aus.

Der Verein nahm das aufwändige Antragsprocedere auf sich und bat in diesem Zusammenhang Dr. Heidi Christ, Leiterin der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik und Dr. Birgit Speckle, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Referat Kulturarbeit und Heimatpflege des Bezirks Unterfranken um Unterstützerschreiben. Auf der Basis dieser Texte möchten  wir hier das Osternachtsingen in Laudenbach vorstellen.

Zum Klappern an den Kartagen

Ratschen in der Karwoche als religiös begründeter Lärmbrauch ist in vielen Gemeinden (Süd-) Deutschlands und Österreichs und darüber hinaus bekannt. In der Regel machen Kinder zu festgelegten Zeiten in der christlichen Karwoche zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag mit den Ratschen, auch Klappern, Rumpeln, Rasseln oder z. B. Raspeln genannten Instrumenten und speziellen Versen auf Gebetszeiten und Gottesdienste aufmerksam, da die Kirchenglocken in diesen Tagen schweigen. Häufig sind mit dem Ratschen auch Heischegänge verbunden, bei denen die „Ratscher“ Geld oder Naturalien einsammeln. Auch in Laudenbach übernehmen die so genannten „Raschpel-Kinder‘“ die Aufgabe, an Karfreitag und Karsamstag die Gläubigen zum Gebet und zum Gottesdienst einzuladen.

Der Brauch ist ab dem 18. Jahrhundert entstanden und hat seither Veränderungen und lokale Ausprägungen erfahren. Der Volkskundler Hans Moser (1903–1990) sieht im Klappern an den Kartagen einen Zusammenhang mit den Rumpel- oder Finstermetten, bei denen am Abend des Gründonnerstags das Kirchenvolk durch gezieltes Lärmen an bestimmten Stellen in das Passionsgeschehen eingebunden wurde.Er hält für offenkundig, dass sich „das Lärmen und Toben (in der Rumpelmette) außerhalb der Kirche selbständig gemacht (hat) in den Umzügen der Klapper- und Ratschenbuben.“ (Moser 1956, S. 89) Belege für das frühe 16. Jahrhundert aus dem baden-württembergischen Biberach und aus der katholischen Kirche St. Lorenz in Nürnberg (Schlemmer 1980, S. 260) zeigen jedoch, dass das „Tafeln“, also das Schlagen gegen Holztafeln, an den Kartagen ursprünglich eine Aufgabe des Mesners war. Dieser hatte sich in Biberach für seinen Gang „um den Kirchhof“ „vil bouben“ zu Hilfe genommen (Schilling 1887, S. 123).Das deutet darauf hin, dass Klappern als Teil der Liturgie in von den Mesnern an Buben delegiert wurde.

In Unterfranken sind Lärmgeräte an den Kartagen für das 17. und 18. Jahrhundert belegt. Karl-Sigismund Kramer (1916–1998), ebenfalls ein Volkskundler der sich intensiv mit archivalischen Quellen befasste, geht davon aus, dass bereits damals Klapperverse gesprochen und Eier gespendet worden sind (Kramer 1957, S. 106). Ratschen und Klappern unterschiedlicher Bauart aus ganz Franken gehören nicht zuletzt zur Instrumentensammlung der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik.

Abb. 1

Das Osternachtsingen als Sonderform eines Brauchs

Die Brauchausübung des Osternachtsingens in Laudenbach stellt eine lokale Sonderform des andernorts aktuell ausgeübten wie auch an weiteren Orten historisch belegten, aber abgekommen Brauches des Ostersingens dar. Belegt sind in Laudenbach etwa seit Ende des 19.  bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts die bis heute verwendeten Klapperverse und ein nächtlicher „Raspeldienst“, der zusätzlich zu den allgemein üblichen Gebets- und Gottesdienstrufen von einer gesonderten Personengruppe ausgeübt wurde.

In Laudenbach zieht also eine Gruppe junger Männer in der Nacht von Karfreitag auf Karsamstag und in der folgenden Nacht durch das Dorf, um vor jedem Haus mit Ratschen und dreistimmigem Gesang in der ersten Nacht die Kreuzigung und Grablegung und in der zweiten Nacht die Auferstehung Jesu zu verkünden. Dieser Brauch ist wegen der Ausübung  in zwei aufeinanderfolgenden Nächten zeitaufwändig, aufgrund der Dreistimmigkeit der Gesänge musikalisch anspruchsvoll und schließlich, da jedes Haus berücksichtigt wird, auch körperlich und stimmlich anstrengend. Dazu kommen Musikproben vor dem eigentlichen Brauchakt. Der Brauch hat sich in den fast hundert Jahren seines Bestehens – er ist seit den 1920er/30er Jahren nachgewiesen – in Details seines Ablaufs den jeweiligen lokalen Gegebenheiten angepasst und ist damit lebendig geblieben.

Abb.2

Veränderungen des Brauchs in veränderten Zeiten

Während die Entstehung des Brauchs (noch) nicht geklärt werden konnte, sind jedoch interessante Veränderungen einzelner Brauchkomponenten belegt. Brauchträger waren ursprünglich männliche Sonntagsschüler, zunächst in mehreren frei gebildeten Gruppen. Um einem Missbrauch entgegenzuwirken, wurde bald eine Anmeldung am Rathaus gefordert. Später schalteten sich auch Väter als ehemalige Brauchträger in die Vorbereitung ein, zumindest um das Singen in geregelte Bahnen zu lenken, möglicherweise auch, um überhaupt einen Fortbestand des Brauchs gewährleisten zu können. Heute sind ledige männliche Laudenbacher zwischen 16 und 30 Jahren die Brauchträger, die Organisation der sich jährlich neu konstituierenden Gruppe übernimmt – meist für mehrere Jahre nacheinander – ein langgedientes Mitglied aus der Sängergruppe. Brauchzeiten waren ursprünglich die Nächte von Gründonnerstag auf Karfreitag (Passion) und von Karfreitag auf Karsamstag (Auferstehung). Erst 1950 fand die Anpassung an das liturgische Geschehen statt, sodass die beiden Gänge um jeweils eine Nacht verschoben wurden. Inzwischen wurde der Brauch auch in den Auferstehungsgottesdienst integriert.

Seit mindestens der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg belegt ist der Gesang im dreistimmigen, extra eingeübten Chorsatz, der in dieser Form ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Laudenbacher Brauchs darstellt. Er ist nicht vergleichbar mit der natürlichen Zweistimmigkeit, in der etwa in Effeltrich und Hetzles (Fränkische Schweiz) Frauen den Brauch des Ostersingens in der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag ausüben.

Adressaten des Laudenbacher Osternachtsingens waren nach älteren Berichten zunächst privilegierte Mitbürger sowie Bewohner abgelegener Anwesen. Zwar berichtet Ankenbrand 1928, dass das Raspeln „manchmal (…) vor jedem Haus“ halb singend, halb sprechend ausgeführt werde, doch bezieht er sich ausschließlich auf das Ratschen zu Gebets- und Gottesdienstzeiten. (Ankenbrand 1928, S. 65) Wann die Osternachtsänger in Laudenbach begannen, vor jedem Haus zu singen und zu ratschen, kann derzeit nicht ermittelt werden. Aktuell wird an etwa 450 Stationen gesungen, darunter auch im Gasthaus, wobei die Botschaften von Tod und Auferstehung auch an Mitbürger ohne Bezug zum christlichen Kirchenjahr überbracht und von diesen gleichmütig bis interessiert aufgenommen werden.

Heischen mit geistlichem Hintergrund

Erhalten hat sich in Laudenbach der Heischecharakter des Brauchs, indem die Osternachtsänger durch Geldgaben entlohnt werden. Möglicherweise spielt der finanzielle Aspekt des Brauches eine kleine Rolle für das Engagement der Ostersänger, die teilweise extra zur Ausübung des Brauches aus studiums- und arbeitsbedingt entfernten Wohnorten ins heimische Laudenbach kommen. Die Ernsthaftigkeit, mit der das Ostersingen organisiert und durchgeführt wird, lässt jedoch vielmehr Rückschlüsse auf die Reflexion sowohl des geistlichen Charakters als auch der Singularität des Brauches zu.

Die Organisation und Durchführung einer solchen Brauchhandlung verlangen ein funktionierendes

Gemeinschaftsleben über Generationen hinweg, da Träger und Verantwortliche sowie Adressaten nicht derselben Generation, nicht derselben Religion und nicht derselben Sozialisierung angehören. Innerhalb der letzten Jahrzehnte müssen ein verändertes Bewusstsein und eine differenzierte Auffassung gegenüber religiösen Bräuchen konstatiert werden, häufig nehmen der Eventcharakter oder saisonale Dekoration gegenüber dem religiösen Ursprung führende Rollen ein. Beim Osternachtsingen in Laudenbach dagegen hat sich der Kern des Brauches – die Verkündung des Todes und der Auferstehung Jesu – erhalten. Die sich ändernden Bedingungen erlauben eine angepasste zeitgemäße Brauchgestaltung mit starkem lokalen Identitäts- und Identifikationscharakter für alle Alt- und Neubürger.

Zur Situation des „Raspelbräuche“ heute

Bräuche wie das Osternachtsingen in Laudenbach geben einem Dorf Identität und Selbstbewusstsein. Gerade in Zeiten der allseits beklagten Landflucht und aussterbender Dörfer muss das Praktizieren gemeinschaftsstiftender, lokalspezifischer Bräuche aus heimatpflegerischer Sicht ausdrücklich befürwortet werden. Alle Dorfbewohner, ob gläubige Christen oder nicht, sind ins Brauchgeschehen eingebunden. Der örtliche Wirt lädt die Sänger zum Frühstück ein. Das Osternachsingen in Laudenbach ist eine Besonderheit, auf die alle Dorfbewohner und Dorfbewohnerinnen zu Recht stolz sein dürfen.

Laudenbach am Main stellte seinen Antrag auf Aufnahme des Osternachtsingens als immaterielles Kulturerbe in einer Zeit, in der das Karfreitagsklappern zunehmend als erhaltenswerter Brauch erkannt wird, der ebendiese identitätsstiftende und gemeinschaftsfördernde Besonderheit des Dorfes darstellt. Dies wird zunehmend auch von den Medien erkannt, die Ratschenbauer und Brauchträger alljährlich ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Der bereits oben erwähnte Eventcharakter ist eine häufige Folge davon.

Abb. 3

In manchen Orten wird in den letzten Jahren das Fehlen von „Ratsch-Kinder“ beklagt, mancherorts überbrücken ältere Menschen, die früher „ratschten“ die Jahre, bis wieder Nachwuchs da ist, der die Klappern dreht. In anderen Orten werden neue „Ratschgruppen“ gegründet. Laudenbach mit seiner fast einhundertjährigen Tradition und seiner Besonderheit des dreistimmigen Gesangs ist ein hervorragendes Beispiel für  eine funktionierende Brauchtradition. Selbst als in der Corona-Pandemie 2021 gemeinsames Singen in Gruppenstärke verboten war, fanden die Laudenbacher eine Möglichkeit, den Brauch in corona-konformer Weise auszuführen, ihren Mitmenschen Tod und Auferstehung Christi auf ihre spezielle Art zu verkünden: Die Osternachtsänger packten Verstärker und Lautsprecher ins Auto und spielten in beiden Nächten zwischen 21 und 22 Uhr von mehreren exponierten Stellen des Dorfes Mitschnitte aus den vergangenen Jahren ab. Offenbar traten viele Ortsbewohner ins Freie, um die in der Lokalzeitung angekündigten Notbehelfe nicht zu verpassen. Die Verfasserinnen wünschen den Organisatoren, Sängern und der Bevölkerung von Laudenbach, dass 2022 der Brauch wieder in gewohnter Weise ausgeführt werden kann.

Verwendete Literatur und Quellen

Ankenbrand, Stephan: Das Klappern in Franken; in: Bayerischer Heimatschutz, 1928, S. 59–71.

Christ Heidi: Ostersingen in zwei oberfränkischen Orten; in: Bröcker, Marianne (Hg.): Berichte über die Jahrestagungen des Nationalkomitees der Bundesrepublik Deutschland im International Council for Traditional Music 2006 in Mainz und 2007 in Bamberg, 2007, S. 273–309.

Kramer, Karl-Sigismund: Bauern und Bürger im nachmittelalterlichen Unterfranken. Würzburg 1957

Moser, Hans: Die Pumpermetten. Ein Beitrag zur Geschichte der Karwochenbräuche. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1956, S. 80–98.

Ohne Verfasser: Das Kirchenjahr im fränkischen Dorf. Eine Zellinger Gottesdienstordnung aus dem 17. Jahrhundert. In: Heiliges Franken 2 (1955), S. 5–7.

Pfeifer, Valentin: Spessartvolk. Sitte und Brauch. Aschaffenburg 1929.

Schilling, A. (Hg.): Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach unmittelbar vor Einführung der Reformation. Geschildert von einem Zeitgenossen. Freiburg 1887.

Schlemmer, Karl: Gottesdienst und Frömmigkeit in der Reichsstadt Nürnberg am Vorabend der Reformation. Würzburg 1980.

Seefelder, Maximilian: Christliche Bräuche und Traditionen. Mehr Freude im Leben. Kevelaer 2014.

Speckle, Birgit: Das Klappern an den Kartagen. Ein gelebter Brauch aus unterfränkischer Sicht. In: Schönere Heimat 2010 (1), S. 4–14.

Internetseiten

Unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/verzeichnis-ike (aufgerufen am 13. Januar 2022).

Ike.bayern.de/verzeichnis/index.html

Bildunterschriften:

Abb. 1: „Raschpel“ aus Laudenbach. Foto: David Breitenbach

Abb. 2: Die Osternachtsänger von Laudenbach am 20. April 2019 (Karfreitag) in der Miltenberger Straße vor der ehemaligen Sparkasse. Foto: Martina Weidner

Abb. 3: Die Osternachtsänger von Laudenbach am 20. April 2019 (Karfreitag) vor dem Gasthaus Goldener Engel. Foto: Martina Weidner